Was ist ein “Anonymer Krankenschein”?
Der Anonyme Krankenschein (AKS) ist ein Dokument, mit dem Menschen, die ansonsten keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben, medizinische Hilfe in Anspruch nehmen können, ohne dass sie selbst, die behandelnden Heilberufler*innen oder Krankenhäuser auf den Kosten sitzen bleiben.
Sind in Deutschland nicht alle Menschen verpflichtet, eine gesetzliche oder private Krankenversicherung abzuschließen? Wieso braucht es überhaupt eine Alternative zur regulären Krankenversicherung?
Das deutsche Gesundheitssystem ist solidarisch ausgerichtet und sieht vor, dass jede*r gesetzlich Versicherte den gleichen Anspruch auf medizinische Versorgung im Krankheitsfall hat. Dennoch sind einige Bevölkerungsgruppen mit Zugangsbarrieren konfrontiert, die dazu führen, dass sie bestehende medizinische Angebote nicht in Anspruch nehmen können. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung kann durch mangelnde finanzielle Ressourcen erschwert bzw. verhindert werden, wenn Menschen erforderliche Zuzahlungen z.B. für Medikamente oder zahnärztliche Behandlungen nicht leisten können. Sprachbarrieren, Informationslücken, und/oder ein ungesicherter Aufenthaltsstatus schränken den Zugang zu medizinischer Versorgung schlimmstenfalls weiter ein.
Welche Personengruppen haben eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsversorgung und könnten von einem AKS profitieren?
Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist insbesondere eingeschränkt für wohnungslose Menschen, Nicht-Krankenversicherte, sich legal in Deutschland aufhaltende EU-Bürger*innen (insbesondere aus Osteuropa), Menschen ohne Papiere (“Illegalisierte”), Asylbewerber*innen, Haftentlassene und Bürger*innen, die hohe Beitragszahlungen für ihre private Krankenversicherung nicht (mehr) aufbringen können. Diese Personengruppen sind somit auch von Vorsorgeuntersuchungen und anderen Maßnahmen wie Impfungen mindestens teilweise ausgeschlossen.
Wieso sollten “Illegalisierte”, also Menschen ohne Papiere, in Deutschland eine Krankenversorgung erhalten, wenn sie sich hier eigentlich gar nicht aufhalten dürfen?
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es in Artikel 25: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung (…)“. Mit der Ratifizierung des UN-Sozialpakts 1976 hat Deutschland allen Menschen unabhängig vom Aufenthaltsstatus eine adäquate Gesundheitsversorgung zugesichert. Auch Menschen ohne Papiere steht nach Asylbewerberleistungsgesetz eine medizinische Versorgung zu, die Kosten tragen die Sozialämter. Faktisch wird ihnen dieses Recht jedoch verwehrt, da die Sozialämter in Deutschland als einziges Land in Europa im Falle einer Kostenübernahme dazu verpflichtet sind, die Ausländerbehörden vom Aufenthalt der Person in Kenntnis zu setzen. Die Menschen können somit aus Angst vor Inhaftierung und/oder Abschiebung die ihnen rechtmäßig zustehende medizinische Hilfe nicht wahrnehmen. Zusätzlich trägt eine ausreichende medizinische Versorgung aller Menschen zu einer besseren Gesundheitssituation der gesamten Gesellschaft bei, z.B. in der Prävention von Krankheiten durch Impfen. Und zuletzt kann die öffentliche Hand ganz praktisch Geld sparen: Studien haben gezeigt, dass die höheren Kosten bei akuten schweren Erkrankungen, Notfällen oder Krankenhausaufenthalten, die am Ende doch vom Sozialamt übernommen werden müssen, höher sind als die Kosten von Präventionsmaßnahmen und rechtzeitiger Behandlung.
Was sind die Folgen, wenn Menschen nicht ausreichend gesundheitlich versorgt sind?
In Folge der beschriebenen Zugangsbarrieren nehmen betroffene Menschen medizinische Versorgung erst im Notfall oder gar nicht in Anspruch. Gesundheitliche Probleme, die sich zu Beginn leicht behandeln ließen, verkomplizieren sich, werden chronisch oder schlimmstenfalls lebensbedrohlich. So kann aus einer unbehandelten Bronchitis eine Lungenentzündung werden, die einen stationären Krankenhausaufenthalt nach sich zieht. Die Konsequenzen sind höhere Kosten, die durch eine frühzeitige Behandlung hätten vermieden werden können. Besonders gefährlich ist die Situation oft für Schwangere, die sich aus Sorge vor Abschiebung nicht in medizinische Betreuung begeben. Mit einer Geburt ohne medizinische Versorgung und ohne fachgerechte Nachsorge gehen sie große Risiken für sich und ihr Kind ein. Auch die Vorsorge- und Impfmaßnahmen für die Kinder werden unter Umständen nicht wahrgenommen.
Wie groß ist die Anzahl der Betroffenen in Bonn?
Die in Bonn lebenden Menschen ohne Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung werden auf insgesamt ca. 9.000 bis 10.000 Personen geschätzt. Dies setzt sich durch Menschen aus folgenden Gruppen zusammen:
- EU-Bürger*innen: keine Zahlen bekannt
- Wohnungslose Menschen: ca. 800
- Nicht-Krankenversicherte: ca. 300
- Privatversicherte im Notlagentarif: ca. 4000
- Menschen ohne Papiere: genaue Zahl unbekannt, ca. 4.000, aber oft in privaten Versorgungsstrukturen
Hat sich die Lage für Menschen ohne Krankenversicherung durch die COVID-19-Pandemie verändert?
In der aktuellen Situation haben diese Menschen mit besonderen Problemen zu kämpfen:
- eingeschränkter Zugang zu Informationen bezüglich COVID-19, da eine Beratung durch Ärzt*innen oft nicht möglich ist und die meisten öffentlichen Informationen nur auf Deutsch verfügbar sind
- keine ausreichende Möglichkeit, sich auf das neuartige Corona-Virus testen und im Notfall behandeln zu lassen
- Unsicherheit bezüglich der Kostenübernahme für Testung und Behandlung, besonders bei einer notwendigen Intensivbehandlung im Krankenhaus
- Angst vor juristischen Konsequenzen bei Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (z.B. Angst vor Abschiebung bei Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität).
Diese Problematiken können dazu führen, dass Menschen ohne Krankenversicherung sich im Krankheitsfall weder testen noch behandeln lassen und erforderliche Infektionsschutzmaßnahmen nicht ausreichend umgesetzt werden. Neben lebensbedrohlichen Verläufen und höheren Kosten, die durch eine frühzeitige Behandlung hätten vermieden werden können, bedeutet jede unerkannte und folglich nicht adäquat behandelte und isolierte SARS-CoV2-Infektion eine Gefahr für alle im gesamtgesellschaftlichen Kontext.
Wie werden Menschen ohne Krankenversicherung in Bonn bisher versorgt? Gibt es Einschränkungen durch die Corona-Pandemie?
Bisher haben ehrenamtliche Strukturen wie MediNetzBonn e.V. oder die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung in Köln und Euskirchen die unzureichende Gesundheitsversorgung dieser Menschen zumindest teilweise ersetzt. Heilberufler*innen wie Ärzt*innen, Psycholog*innen, Physiotherapeut*innen arbeiten ehrenamtlich, höhere Kosten für Operationen, Geburten oder Medikamente werden über Spenden finanziert. Aufgrund überfüllter Wartezimmer, mangelnder Kapazitäten für infektiologische Tests, unzureichender Ausstattung mit Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel und damit einhergehender Gefährdung des ehrenamtlich engagierten Personals, kann dieses Versorgungsangebot aktuell allerdings nicht mehr oder nur noch mit erheblichen Einschränkungen stattfinden. Und das, obwohl der Bedarf in Zeiten von COVID-19 natürlich weiterhin und sogar mit erhöhter Dringlichkeit besteht.
Wie funktioniert die Vergabe der Anonymen Krankenscheine in Bonn?
Angelehnt an das Vorbild der Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative STAY!, wo bereits 2016 ein Anonymer Krankenschein (AKS) eingeführt wurde, wird der AKS durch eine neutrale Stelle ausgegeben, bietet den Hilfesuchenden freie Ärzt*innenwahl und den behandelnden Personen und Institutionen eine garantierte Kostenübernahme. Nach einer Bedarfssprüfung durch eine*n Sozialarbeiter*in ermittelt eine medizinische Fachkraft den medizinischen Bedarf anhand der vorgebrachten Symptome und legt entsprechend fest, für welche medizinische Fachrichtung der*die Patient*in einen AKS erhält. Mit dem Anonymen Krankenschein in Bonn sollen sowohl ambulante als auch stationäre Behandlungen in Anspruch genommen werden können. Mit dem ausgestellten Schein sucht der*die Patient*in im Anschluss eine*n Ärzt*in bzw. ein Krankenhaus seiner*ihrer Wahl auf und vereinbart selbstständig einen Termin. Nach der Behandlung durch den*die Fachärzt*in schickt diese*r eine Rechnung an die Buchhaltung des AKS Bonn und bekommt die Kosten erstattet.
Was kostet der AKS in Bonn pro Jahr? Wer soll dafür bezahlen?
Basierend auf Zahlen aus Düsseldorf und den bisherigen Fallzahlen von MediNetzBonn e.V. belaufen sich die Gesamtkosten inklusive Behandlungskosten, Personalkosten, Beschaffung der Erstausstattung und laufenden Kosten inkl. Mieten etc. lediglich auf ca. 300.000€/Jahr belaufen. Diese werden aus dem Kommunalhaushalt bezahlt und können insgesamt sogar eine Entlastung für die Stadt bedeuten, da viele schwere und chronische Krankheitsverläufe und Notfälle, die bisher schon vom Sozialamt bezahlt werden, durch Maßnahmen zur Vorbeugung, frühen Diagnostik und Behandlung verhindert werden können.
Wer überprüft, dass wirklich nur Menschen ohne Krankenversicherung den AKS in Anspruch nehmen können? Wie wird verhindert, dass Menschen ohne Krankenversicherung aus anderen Städten nach Bonn kommen, um sich hier kostenlos behandeln zu lassen?
Wenn eine Person in die Sprechstunde kommt, prüft zunächst ein*e Sozialarbeiter*in den rechtlichen Status und stellt fest, ob der*die potenzielle Patient*in nicht doch in die Regelversorgung integriert werden kann und eine Inanspruchnahme des AKS somit nicht notwendig ist.
Falls die Person nicht aus Bonn kommt, wird sie an eine kooperierende Organisation in einer anderen Stadt weitervermittelt. Dadurch sollen auch Formen von “Medizintourismus” verhindert werden, wo Menschen mit dem Ziel der Versorgung eines konkreten gesundheitlichen Leidens und nur für begrenzte Zeit nach Bonn kommen.
Wie sieht die Lage in anderen Städten oder Bundesländern aus?
In Deutschland wird das Konzept eines AKS mit geringfügigen strukturellen Unterschieden bereits in einigen Städten und Regionen umgesetzt. Thüringen, Berlin, Leipzig und Düsseldorf sind Beispiele für Regionen, in denen der AKS erfolgreich umgesetzt wird.
Gibt es alternative Konzepte zum Anonymen Krankenschein, z.B. eine Eingliederung der Menschen in das reguläre Gesundheitssystem?
Aktuell gibt es deutschlandweit Forderungen, z.B. durch den Dachverband der Medibüros und Medinetze, die Übermittlungspflicht der Sozialämter an die Ausländerbehörden abzuschaffen (§ 87 Abs. 2 AufenthG) und unversicherte Menschen unabhängig vom Aufenthaltsstatus in das reguläre Krankenversicherungssystem einzugliedern.
So gibt es beispielsweise in Frankreich eine kostenlose Krankenversicherung für illegalisierte Menschen mit Zugang zur Regelversorgung ohne die Gefahr einer Abschiebung (AME, Aide médicale d’état). Krankenversicherung und Aufenthaltsrecht sind hier klar voneinander getrennt, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorsieht.
Auch in Deutschland wurde die Übermittlungspflicht in einem anderen Bereich bereits ausgesetzt: Im Jahr 2011 entschied der Bundestag, dass Kindergärten und Schulen künftig nicht mehr Ausweispapiere prüfen sollten, um so auch Kindern aus Familien ohne gesicherten Aufenthaltsstatus das Menschenrecht auf Bildung zuzusichern.