Offener Brief an die Stadt Bonn – Umgang mit Covid-19 im Hinblick auf Menschen ohne Krankenversicherung

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Sridharan,
sehr geehrter Vorsitzender des Corona-Krisenstabs Herr Stadtdirektor Fuchs,

die COVID-19-Pandemie stellt die Weltbevölkerung vor eine nie dagewesene Herausforderung. Auch in Deutschland werden weitreichende und kostenintensive Maßnahmen ergriffen, um die medizinischen, wirtschaftlichen und persönlichen Belastungen und Einschränkungen abzufedern. Durch solidarische Maßnahmen sollen diese negativen Folgen für jede und jeden Einzelne*n so gering wie möglich gehalten werden.

Trotzdem gibt es Personen, die von medizinischer Versorgung ganz oder teilweise ausgeschlossen sind. Allein in Bonn leben schätzungsweise 10.000 Betroffene: Menschen ohne Papiere, EU- Bürger*innen ohne Arbeit, Wohnungslose, Nicht-Krankenversicherte sowie Privatversicherte im Notlagentarif, die die hohen Beitragszahlungen für ihre private Krankenversicherung nicht aufbringen können.

Gerade diese Menschen haben in der aktuellen Situation mit besonderen Problemen zu kämpfen:

  • eingeschränkter Zugang zu Informationen bezüglich COVID-19, da eine Beratung durch Ärzt*innen oft nicht möglich ist und die meisten öffentlichen Informationen nur auf Deutsch verfügbar sind
  • keine ausreichende Möglichkeit, sich auf das neuartige Corona-Virus testen und im Notfall behandeln zu lassen
  • Unsicherheit bezüglich der Kostenübernahme für Testung und Behandlung, besonders bei einer notwendigen Intensivbehandlung im Krankenhaus
  • Angst vor juristischen Konsequenzen bei Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (z.B. Angst vor Abschiebung bei Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität).

Diese Problematiken können dazu führen, dass Menschen ohne Krankenversicherung sich im Krankheitsfall weder testen noch behandeln lassen und erforderliche Infektionsschutzmaßnahmen nicht ausreichend umgesetzt werden. Neben lebensbedrohlichen Verläufen und höheren Kosten, die durch eine frühzeitige Behandlung hätten vermieden werden können, bedeutet jede unerkannte und folglich nicht adäquat behandelte und isolierte SARS-CoV2-Infektion eine Gefahr für alle im gesamtgesellschaftlichen Kontext.Bisher haben ehrenamtliche Strukturen wie MediNetzBonn e.V. oder die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung in Köln und Euskirchen die unzureichende Gesundheitsversorgung dieser Menschen zumindest teilweise ersetzt. Aufgrund überfüllter Wartezimmer, mangelnder Kapazitäten für infektiologische Tests, unzureichender Ausstattung mit Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel und damit einhergehender Gefährdung des ehrenamtlich engagierten Personals, kann dieses Versorgungsangebot aktuell allerdings nicht mehr oder nur noch mit erheblichen Einschränkungen stattfinden. Und das, obwohl der Bedarf in Zeiten von COVID-19 natürlich weiterhin und sogar mit erhöhter Dringlichkeit besteht.

Der Flüchtlingsrat NRW schreibt dazu in einer aktuellen Pressemitteilung vom 19.03.20:

„Illegalisierten (Menschen ohne Papiere) muss der Zugang zum regulären Gesundheitssystem und zu Corona-Tests ermöglicht werden. Dies erscheint auch epidemiologisch sinnvoll! (…) Eine temporäre Gesundheitskarte einzuführen, wäre eine Lösung.“

Deshalb fordern wir in dieser Notlage zur Sicherstellung der adäquaten Versorgung und des Schutzes aller Menschen den Anonymen Krankenschein für Bonn. Angelehnt an das Vorbild der Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative STAY! wird der Anonyme Krankenschein (AKS) durch eine neutrale Stelle ausgegeben, bietet den Hilfesuchenden freie Ärzt*innenwahl und den behandelnden Personen und Institutionen eine garantierte Kostenübernahme. Der neu gegründete Verein “Anonymer Krankenschein Bonn” (ein Zusammenschluss verschiedener Bonner Organisationen) hat bereits ein Konzept entwickelt, das diesem Brief beigefügt ist.

Angesichts der dringlichen Lage bitten wir Sie um Ihre Unterstützung: Bemühen Sie sich um eine zeitnahe pragmatische Lösung für diese vulnerable Personengruppe! Wir alle sind mit den Folgen dieser Pandemie konfrontiert und erleben aktuell auch, wie in kürzester Zeit und in bisher nicht gekannter Weise politische Ressourcen aktiviert werden. Bei aller Unruhe und Verunsicherung, die nun herrschen, ist es noch dringlicher, jene Mitglieder unserer Gesellschaft zum Schutze aller nicht zu vergessen, die auf besondere Hilfe angewiesen sind.

Gerne stehen wir zeitnah für einen weitergehenden Austausch zur Verfügung und freuen uns, wenn Sie Kontakt zu uns aufnehmen.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Verein Anonymer Krankenschein Bonn

Die Einführung des Anonymen Krankenscheins in Bonn wird von folgenden Organisationen ausdrücklich unterstützt:

Evangelischer Kirchenkreis Bonn
Evangelischer Kirchenkreis Bad Godesberg-Voreifel Katholisches Stadtdekanat Bonn
AIDS-Initiative Bonn e.V.
Ausbildung statt Abschiebung e.V.
Arbeiterwohlfahrt Bonn-Stadt e.V.
Caritasverband für die Stadt Bonn e.V.
Der Paritätische Bonn
Deutsches Rotes Kreuz Kreisverband Bonn e.V.
Diakonisches Werk Bonn und Region
Evangelische Migrations- und Flüchtlingsarbeit Bonn (EMFA) Flüchtlingshilfe Bonn e.V.
Jusos Bonn
MedinetzBonn e.V.
pro familia Bonn e.V.
Seebrücke Bonn
Verein für Gefährdetenhilfe e.V.

In der lange ersehnten Stellungnahme zu unserem Bürgerantrag sieht die Stadtverwaltung die Notwendigkeit, “Lücken im Versorgungssystem zu schließen und Zugang zum Krankenversicherungssystem zu fördern”. Und was heißt das konkret? “Auch für den Personenkreis der in Bonn aufhältigen Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus wäre es aus Sicht der Verwaltung gerechtfertigt, das Anliegen des Vereins, einen anonymen Zugang zur Krankenbehandlung, zu unterstützen.”

Die gesamte Stellungnahme gibt es hier:

Stellungnahme der Verwaltung

200645-2 ST – Stellungnahme der Verwaltung

Inhalt der Stellungnahme:

Vom Grundsatz her haben seit dem 01.04.2007 bzw. 01.01.2009 alle (ehemaligen) gesetzlich oder privat Krankenversicherten Zugang zu einer Krankenversicherung.

Die im folgenden dargestellte Stellungnahme der Verwaltung berücksichtigt neben dem Bürgerantrag auch das der Verwaltung vom Verein Anonymer Krankenschein Bonn (AKS-Bonn) zur Verfügung gestellte Konzept zur Einführung einer medizinischen Versorgung für alle Menschen mit eingeschränktem bzw. ohne Krankenversicherungsschutz in Bonn.

Der im Bürgerantrag des Vereins angeführte Wert von ca. 9.000 bis 10.000 Menschen in Bonn ohne (ausreichende) Absicherung im Krankheitsfall entspricht etwa 3% der Bonner Bürgerinnen und Bürger. Dem Konzept ist zu entnehmen, dass die Ermittlung der Zahlen zum Teil auf bundesweiten Daten beruht, die auf Bonn heruntergebrochen wurden. Zum Teil beruht sie auf Schätzungen deren Ermittlungsgrundlage unbekannt ist. Eine valide Beurteilungsgrundlage für die Anzahl der tatsächlich betroffenen Personen ergibt sich aus den Daten nicht.

Konkret auf die einzelnen, als ohne Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung, angeführten Personengruppen bezogen, ist Folgendes festzustellen:

Obdachlose Personen

Der größte Teil der obdachlosen Personen gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem SGB II und verfügt damit über eine Pflichtversicherung über das Jobcenter Bonn. Obdachlose Personen mit Leistungsanspruch nach dem SGB XII erhalten, soweit keine anderen Versicherungsmöglichkeiten bestehen, Hilfen zur Gesundheit nach §§ 47 – 52 SGB XII über den Sozialhilfeträger.

Nicht-Krankenversicherte

Wie ausgeführt, besteht dem Grunde nach für jede (legal aufhältige) Person ein Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Die Verwaltung hat die Erfahrung gemacht, dass der nicht realisierte Zugang zum Krankenversicherungs-system häufig auch beim fehlenden Willen bzw. der fehlenden Fähigkeit zur Mitwirkung der Nicht-Versicherten liegt, oft aber auch auf die komplexe Materie zurückgeht, die Menschen ohne sehr gute Deutschkenntnisse und ohne eine entsprechende niederschwellige Beratung den Zugang zu einer Krankenversicherung erschwert.

Soweit es sich um Leistungsberechtigte nach dem SGB XII oder AsylbLG handelt, ist die Sozialverwaltung bestrebt, eine Pflichtversicherung zu erreichen. So ist im Amt für Soziales und Wohnen ein Mitarbeiter mit der Durchsetzung des Zugangs zur Krankenversicherung beschäftigt.

Privatversicherte im Notlagentarif

Eine reduzierte Krankenversicherungsleistung im sog. „Notlagentarif“ ist stets bedingt durch Beitragsrückstände. In diesen Fällen dürfte im Regelfall eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II bzw. SGB XII bestehen oder anderenfalls eine Begleichung der Rückstände möglich sein.

EU-Ausländer

Bei EU-Ausländerinnen und –Ausländern sind verschiedene Fallkonstellationen denkbar. Soweit im Heimatland eine Krankenversicherung besteht, hat die Person einen Sachleistungsanspruch gegenüber einer frei zu wählenden deutschen

Krankenkasse.

Im Fall einer beendeten Krankenversicherung im Heimatland werden diese Versicherungszeiten anerkannt und es kann ein Anspruch auf eine freiwillige Versicherung in Deutschland bestehen.

Unabhängig von individuellen Ansprüchen auf Absicherung im Krankheitsfall in Deutschland ist relevant, dass Personen aus dem EU-Ausland in der Regel keine Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII erhalten und somit auch keine Leistungen zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Damit hat der Gesetzgeber die Nachrangigkeit des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslands normiert. Jedoch sind Leistungsansprüche nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern lediglich auf solche Hilfen beschränkt die erforderlich sind, um die Betroffenen in die Lage zu versetzen, existenzsichernde Leistungen ihres Heimatlandes in Anspruch zu nehmen. Die Rückkehr in das Heimatland kann eine Lösung sein, oft ist dies jedoch aus vielfältigen Gründen nicht möglich und der Zugang zu Arbeit und Krankenversicherung wird angestrebt. 

Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus

Ausländer, die sich ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhalten, haben im Bedarfsfall und nach Klärung ihres aufenthaltsrechtlichen Status einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung nach dem AsylbLG. Soweit der aufenthaltsrechtliche Status nicht geklärt wird, ist für diesen Personenkreis ein Zugang in das Krankenversicherungssystem vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht vorgesehen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der Zugang zur Krankenversicherung und der Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus sehr hochschwellig ist.

Der Verwaltung ist bekannt, dass der Verein Medinetz e.V. mit großem ehrenamtlichen Engagement Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus bzw. ohne Krankenversicherung eine medizinische Versorgung (auch bei schweren und/oder chronischen Erkrankungen, bei Schwangerschaften und Geburten, aber auch durch Impfungen u.a.) ermöglicht. In den letzten Monaten hat Medinetz e.V. zusätzlich zahlreiche Fragen zum Corona-Virus beantwortet und Betroffenen weitergeholfen.

Aktuell gibt Medinetz e.V. die Zahl der Menschen ohne Papiere in Bonn mit rd. 4000 an. Ein fehlender gültiger Aufenthaltsstatus kann dabei viele Gründe haben und oft nicht einfach und schnell gelöst werden. Migrationsberatungsstellen beraten zu einer möglichen Legalisierung. 

Insgesamt verbleibt – neben Zugewanderten aus EU- und Drittstaaten mit ungeklärtem Krankenversicherungsstatus – der Personenkreis der ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland lebenden Personen als Gruppe ohne Möglichkeiteines Zugangs zur Krankenversicherung, soweit jedenfalls die Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status nicht gelingt. Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus sind für das öffentliche Gesundheitssystem sehr schwer erreichbar. Diese Menschen haben Sorge bei der Ausländerbehörde gemeldet zu werden, wenn sie sich an eine öffentliche Stelle oder ein Krankenhaus wenden.

Gleichzeitig sind viele dieser Menschen aufgrund prekärer Arbeits- und Wohnverhältnisse einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung einer Regelung für diese Fälle ist nach Auffassung der Verwaltung grundsätzlich eine einheitliche bundesweite Lösung erforderlich, damit es nicht zu einer nicht zu akzeptierenden alleinigen finanziellen Inanspruchnahme der Kommunen kommt.

Für die Einführung des Anonymen Krankenscheins rechnet der Verein mit Kosten von rund 311.000 Euro pro Jahr sowie im Anfangsjahr mit zusätzlichen Investitionskosten in nicht genannter Höhe (dem Konzept des Vereins entnommen). Die Behandlungskosten basieren auf den in Düsseldorf mit einem gleichartigen Modellprojekt gemachten Erfahrungen kombiniert mit einer hochgerechneten angenommenen Anzahl von Patientinnen und Patienten in Bonn. Hier ist zum einen fraglich, ob die Verhältnisse hinsichtlich der Erkrankungen und damit einhergehenden medizinischen Bedarfen und Kosten in Düsseldorf und Bonn vergleichbar sind. Zum anderen müssten die Kosten auf die in Bonn lebenden Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus beschränkt werden.

Um die Ausgrenzung aus der üblichen Gesundheitsversorgung nicht weiter zu fördern muss immer das Ziel sein, den eigenständigen und dauerhaften Zugang der Betroffenen zur regulären Gesundheitsversorgung zu erreichen.

Seitens der Verwaltung wird jedoch ein Bedarf an unabhängiger, qualifizierter Beratung gesehen, um Lücken im Versorgungssystem zu schließen und Zugang zum Krankenversicherungssystem zu fördern. Auch für den Personenkreis der in Bonn aufhältigen Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus wäre es aus Sicht der Verwaltung gerechtfertigt, das Anliegen des Vereins, einen anonymen Zugang zur Krankenbehandlung, zu unterstützen. In diesem Zusammenhang können sich über die akute medizinische Intervention hinaus unter Umständen Ansätze zur Legalisierung von Aufenthalten bieten.

Die Verwaltung schlägt vor, mit dem Verein ein Konzept für ein Modellprojekt zu erarbeiten, indem Rahmenbedingungen und der Umfang der tatsächlichen Bedarfe eines solchen Modellprojektes entwickelt werden. Dabei sind Fragen zu erforderlichen Strukturen in Bonn, der Finanzierung des Projektes und niederschwelligen Möglichkeiten zur ärztlichen Versorgung zu klären. Das Modellprojekt sollte zeitlich befristet sein (vorstellbar eine Dauer von 18 Monaten mit einer 12-monatigen Durchführungsdauer und einer 6-monatigen Evaluationsphase).

Beschlussvorschlag der Verwaltung:

Die Verwaltung wird beauftragt, in Gesprächen mit dem Verein ein Konzept für ein Modellprojekt zur Beratung und Beschlussfassung im Ausschuss für Soziales, Migration, Gesundheit und Wohnen zu erarbeiten. Im Haushalt 2021/2022 werden nachlaufend, nach Beschluss eines Modellprojektes durch den Fachausschuss, entsprechende Haushaltsmittel angemeldet.

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